Die Luisenstadt-Gemeinde und ihre Gotteshäuser

Drei Jahrhunderte zurück: Die deutschen Lande vom Dreißigjährigen Krieg gebrandschatzt. Selten ist der Frieden so herbeigesehnt worden wie in diesen unruhigen Zeiten. Als er endlich geschlossen wird, atmen die Überlebenden auf.Mit Mut und Gottvertrauen bauen sie wieder auf, was die Fackel der Zerstörung vernichtet hat. Ein neues Lebensgefühl macht sich breit. Jahre des Neubeginns folgen. Rasch steigt die Zahl der Einwohner. Handel und Wandel gelangenzu neuer Blüte. In dieser Situation nimmt die Luisenstadt-Kirchengemeinde ihren Anfang.

Der Ursprung der Gemeinde

Schon 1665 hatte sich Cölln am schnellsten von den Kriegswirren erholt und die letzten „wüsten Stellen" beseitigt. Auch die dortige St. Petrigemeinde wuchs. Sie kaufte sich ein Grundstück für einen neuen Friedhof in der Köllnischen Vorstadt und erhielt die kurfürstliche Genehmigungfür den Bau einer Kapelle. Damit waren aber die Probleme nicht beseitigt. Die Zahl der Einwohner in der Vorstadt hatte derart zugenommen, daß vielen, die nach St. Petri zur Beichte gehen wollten, diese gar nicht abgenommen werden konnte. Da blieb als Ausweg nur der Antrag aufeinen eigenen Prediger für die Vorstadt.

Nachdem Kurfürst Friedrich III. seine Zustimmung dafür gegeben hatte, berief der Magistrat den 27jährigen Theologen Christoph Friedrich Possart. Am 2. Juli 1694 wurde er auf dem neuen Friedhofder St. Petrigemeinde in sein Amt eingeführt.

Dieses Datum gilt als die Geburtsstunde der Luisenstadtgemeinde.

Hier in der Köllnischen Vorstadt, die damals auch als Köpenicker Vorstadt oderdie Gegend vor dem Köpenicker Tor bezeichnet wurde, lag der Wirkungskreis der neuen Gemeinde - umgrenzt von der Spree, dem Festungsgraben (heute Alte und Neue Jakobstraße bis zur Kommandantenstraße), der Lindenstraße und den Feldmarken von Tempelhof, Rixdorf,Treptow und Köpenick.

Die erste Kirche

Zunächst freilich mußte improvisiert werden: Die Gottesdienste fanden unter freiem Himmel statt. Bei ungünstigem Wetter zog man in eine Bretterhütte, praktisch in die erste Interimskirche des späteren Berlin. Im Winter stellte Prediger Possart das Haus, in dem er wohnte für die Gottesdienste zur Verfügung. Aber schon am 27. August 1694 wurde auf dem neuen Friedhof der Grundstein für die erste Kirche der Gemeinde gelegt. In der Wendlandschen Chronik von 1648-1701 istdieses Ereignis festgehalten.

Schon nach knapp einjähriger Bauzeit konnte am 21.Juli 1695 durch Propst Lütkens von St.Petri die neue Kirche eingeweiht werden. Das war in der Hauptsache dem Köllnischen Ratsmann und Oberkirchenvorsteher Sebastian Nethe zu verdanken, der den Bau unermüdlich und uneigennützigbetrieben hatte. Als Dank dafür gab der Magistrat der Kirche den Namen Sebastianskirche. Sie trug ihn bis 1785.

Dann wurde der Name durch eine Ministerialverfügung in Köllnische Vorstadtkirche geändert. Aber schon zur 100-Jahrfeier 1795 erhielt sie von König Friedrich Wilhelm II. ihren alten Namen„Sebastianskirche" zurück.

Im Rahmen der Stadterweiterung setzte um die Jahrhundertwende unter dem Preußenkönig Friedrich I. auch ein umfangreicher Bau protestantischer Kirchen ein. Damals entstanden die Parochialkirche, die Deutsche und die Französische Kirche auf dem Gendarmenmarkt, dieGarnisonkirche, die Waisenhaus- und die Sophienkirche. Alle diese Kirchen waren Barockbauten. Bescheiden nahm sich unter ihnen die Sebastianskirche aus. Ihr Baumeister war Martin Grünberg. Er hatte das Gotteshaus im Grundriß in Kreuzesform gestaltet, in Fachwerk ausgeführt und mit einem kleinen hölzernen Turm für die Glocke versehen. 1707 wurde mit einem Festgottesdienst die Einweihung einer neuen Schnitger-Orgel gefeiert.

Reliefplatte am Denkmal

Kurfürstliche Spannungen

Als „Tochter" der St. Petrigemeinde in Cölln blieb die Luisenstadtgemeinde beim lutherischen Bekenntnis. Ohne sich damit gegenüber den Reformierten abweisend oder feindlich zu verhalten, wie das im 17. Jahrhundert häufig der Fall war. Kurfürst Friedrich II., der mit seinem Hof zu den Reformierten gehörte, orientierte inseiner Kirchenpolitik zwar auf eine Befriedung der konfessionellen Gegensätze zwischen beiden Glaubensrichtungen,wollte aber dennoch die reformierten Positionen im Lande erweitern. Bei der Anlage des neuen Friedhofes von St. Petri hatte er verfügt, daß sowohl Lutheranern wie Reformierten erlaubt sein sollte, ihre Toten auf dem Gottesacker zu beerdigen.

Seine Verordnung vom 15. Juli 1695 ging aber doch in eindeutige Richtung: In allen bestehenden Kirchen könnten die lutherischen Zeremonien mit ihren noch vorhandenen „papistischen" Elementen wie dem Tragen weißer Chorröcke und dem Kreuzschlagen beibehalten werden. In den neu gebauten Kirchen seien diese Gebräuche aber nicht mehr erlaubt, lautete seine Verfügung.

Die Einweihung der Sebastianskirche wurde trotzdem nach allen lutherischen Zeremonien vollzogen. Als das der Kurfürst erfuhr, drohte er dem Magistrat mit der Verweigerung des Patronatsrechts. Dahinter standen eindeutig Machtfragen,denn die Oppositionshaltung der Lutheraner war auch gegen den Vormarsch des kurfürstlichen Absolutismus gerichtet. Propst Lütkens entschuldigte sich zwar in einem selbstbewußt verfaßten Brief an den Kurfürsten mit seiner Unkenntnis des Verbotes und machte geltend, daß in St.Petri die alten Bräuche beibehalten worden seien. Deshalb sei Prediger Possart nach den alten Zeremonien eingeführt worden. Außerdem sei in seinen Augen ein weißer Rock nichts Unchristliches und im Übrigen sollte man die alten Bräuche besser langsam und behutsam abschaffen. Auch die Mitglieder der neuen Gemeinde wandten sich an den Kurfürsten mit der Bitte, ihnen die gewohnten Bräuche auch weiterhin zu erlauben. Das wurde jedoch nicht genehmigt und hatte zur Folge, daß die Prediger von St. Petri sich bis 1705 weigerten, ihre Toten auf dem neuen Friedhof in der Köllnischen Vorstadt ohne lutherische Zeremonien zu beerdigen. Also begleiteten sie die Verstorbenen nur bis zur Köpenicker Brücke, der Grenze zwischen beiden Gemeinden, und übergaben sie dort dem Prediger Possart, der die Beisetzung anschließend vornahm. Das Patronatsrecht erging an den Magistrat erst auf dessen wiederholte Bitten am 12. August 1695.

Ein Turm nach 92 Jahren

In den Jahren 1841/42 wurde die baufällige Luisenstadt-Kirche unter Leitung von Bauinspektor Berger gründlich instandgesetzt. Dabei wurden soviel Gelder verbraucht, daß für den Turm zunächst wiederum keine Mittel mehr vorhanden waren. Der Magistrat sprang ein. Endlich - nach 92 Jahren - hatte die Kirche ihren Turm: Am 20. August 1845 wurden Turmknopf und Kreuz feierlich enthüllt. Auch eine Turmuhr kam im gleichen Jahr hinzu. Über die Schönheit der Kirche selbst gingen die Meinungen recht auseinander. Während Prediger Noel 1894 in seiner Chronik zur 200-Jahrfeier von „schlichter und prunkloser, aber gefälliger und anmutender Einfachheit" schreibt, ist für Superintendent Koch 1926die Kirche zwar auch schlicht, aber „wenig geschmackvoll". Das mag an einer bunten, unruhigen Bemalung des Innenraumes gelegen haben.

1936 fanden noch einmal größere bauliche Maßnahmen statt. Neben dem Einbau von Heizung, Beleuchtung und Toiletten wurde auch die Farbgestaltung erneuert. In einem zweiten Bauabschnitt sollte 1937 auch die Orgel umgesetzt werden. Der Umbau war 1940 beendet.

Die Grabgewölbe unter der Kirche wurden - wie seinerzeit die Zeitungen schrieben - Anziehungspunkt für zahlreiche Besucher. Pfarrer Themel hielt Vorträge und veranstaltete Führungen. Besonderes Interesse fand unter dem Turm einegeräumige Grabkammer mit drei Särgen ohne Deckel.

Das zweite Gotteshaus

Nach etwa einem halben Jahrhundert war die Sebastianskirche baufällig geworden. Der Turm drohte einzustürzen. Deshalb wurde die Glocke heruntergenommen und in ein neben der Kirche errichtetes Gerüst gehängt. Das Hochwasser von 1750, bei dem man im Kahn über den Friedhof fahren konnte, brachte die Kirche dem Einsturz nahe. Reparaturpläne wurden verworfen. Der Bau einer neuen Kirche wurde beschlossen. Aber das Geld war knapp: Eine Landeskollekte brachte nur einen kleinen Teil der notwendigen Bausumme ein. Schließlich mußte ein hoher Kredit aufgenommenwerden. 1751 wurde auf dem Friedhofsgelände der Grundstein für die neue Kirche gelegt, die jetzt ihren Standort mehr zur Alten Jakobstraße hin hatte. 306 Grabstellen mußten zuvor umgesetzt werden.

Die Baumeister Christian August Naumann und Johann Gottfried Büring errichteten das neue Gotteshaus auf einemhohen, festen Gewölbe, das auch einem Hochwasser standhalten konnte. Das Gewölbe war in 27 große und kleine Leichenkammern mit eigenen Licht- und Luftöffnungen geteilt, so daß die dort Bestatteten zu Mumien wurden. Die Baumeister selbst, der Bürgermeister und der Stadtkämmerer hatten dort ihre Ruhestätten ebenso wie der Aufklärer Friedrich Nicolai.

Orgel und Kanzel konnten aus der alten Kirche übernommen werden. In dem saalartigen rechteckigen Kirchenraum war der Altar in der Mitte aufgestellt. Eine flache Decke wurde von Holzstützen getragen. Hohe Rundbogenfenster ließen viel Licht in den Raum einströmen. Aber die neue Kirche hatte keinen Turm. Zwar hatte der Magistrat die Zusage gegeben, Mittel dafür bereitzustellen. Die wurden dann aber für die Renovierung des baufälligen Gefangenenhauses, des Kalandshofes, benötigt. So mußte sich die Gemeinde mit einem kleinen Holzbau begnügen, der die zwei Glocken tragen konnte. Am 23. Dezember 1753 fand die Einweihung der neuen Kirche durch Propst Süßmilch von St. Petri statt.

Der Kirchenname wechselt

Nachdem die Bewohner der Köllnischen Vorstadt auf ihre Bitte hin von König Friedrich Wilhelm III. die Erlaubnis erhalten hatten, ihren Stadtteil zu Ehren der Königin „Luisenstadt" nennen zu dürfen, wurde im April 1802 auch die Sebastianskirche in Luisenstadt-Kirche umbenannt. Nach dem Tode der Königin 1810 baten die Prediger um eine Änderung des Kirchennamens in Luisenkirche. Das wurde zwar von der kurmärkischen Regierung erlaubt, nicht aber vom König. Er verfügte 1837, daß es bei dem Namen Luisenstadt-Kirche bleiben soll, was seitdem für Kirche und Gemeinde verbindlich ist. Wahrscheinlich war die 1826 erfolgte Namensänderung der Charlottenburger Kirche in Luisenkirche auch ein Grund für die Rückbenennung.

Königin Luise

Etappen der Vernichtung

Der Krieg verschonte die Gemeinde nicht. In der Nacht vom 30. zum 31. August 1940 explodierte eine englische Sprengbombe in der Sebastianstraße und verursachte Schäden an Kirche, Gemeinde- und Pfarrhaus (Sebastianstraße 56). Besonders Fensterscheiben waren zu Bruch gegangen. Die Schadenssumme wurde mit rund 8.000 Reichsmark beziffert. Die Abnahme der Glocken 1942 setzte das Schlagwerk der Turmuhr außer Betrieb.

Am 3. Februar 1945 erfolgte in der Zeit von 10.39 bis 12.16Uhr der wohl schwerste Luftangriff der Alliierten auf die Reichshauptstadt. Der Schwerpunkt der Bombenabwürfe lag im Umfeld des Spittelmarktes, des Moritzplatzes und des Neanderviertels, dem heutigen Heinrich-Heine-Viertel. Durch Luftminen, Spreng- und Brandbomben wurden die letzten Reste der Bebauung im Zentrum zwischen Alexanderplatz und Brandenburger Tor in Schutt und Asche gelegt. Die erschreckende Bilanz des Luftangriffes: Mindestens 2.541 Tote, 714 Vermißte,1.688 Verwundete und 119.057 Obdachlose.

In den Kellergewölben der Luisenstadt- Kirche suchten zu der Zeit etwa 60 Personen, darunter Mitarbeiter der Kirche und Kinder des Kindergartens der Gemeinde, Schutz vor den Bomben. Niemand kam lebend aus den Kellergewölben der Kirche heraus. Aus dem Sterbebuch des Standesamtes Berlin-Mitte sollen stellvertretend für viele Gemeindeglieder genannt werden: die Kindergärtnerin Margarete Wieczorek, Pfarrfrau Margarete Themel, Diakon Hans Strauß und seine Ehefrau Wilhelmine und Pfarrgehilfin Erika Patzak. Auch die Küsterei mit allen Akten und dem Tresor fiel den Bomben zum Opfer.

Abschied von der Gemeinde

Pfarrer Joachim Braun schreibt dazu im Rückblick: „Am Sonntag, dem 11.2. 1945, feierten wir den Abschied von der Gemeinde mit solchen Gemeindegliedern, welche mit dem Leben davongekommen waren. Der Gottesdienst fand in dem erhaltenen Kellerraum des Gemeindehauses statt. Es fehlte jede Beleuchtung, es fehlte ein Altar, es fehlten Bänke, es fehlte ein Talar, es fehlte alles, was zu einem normalen Gottesdienst zu gehören scheint. 130 Menschen waren dort versammelt. Aber es fehlte nicht die Hauptvoraussetzung für einen Gottesdienst, eine hungrige, nach Gottes Wort verlangende Gemeinde. Wir feierten das Abendmahl mit normalem Brot und Wasser. Dieser Abschiedsgottesdienst wird mir in besonderer Erinnerung bleiben."

Am Freitag, dem 29. Mai 1964, wird die Ruine der Luisenstadt-Kirche gesprengt.

Heutiges Denkmal am alten Standort der Kirche
Kirchhof der Luisenstadt-Gemeinde